Stand: 12.06.2024
Offene Ganztagsschulen (OGS) bieten ein umfassendes und ganzheitliches Bildungs-, ErziehungsBetreuungs- und Förderangebot für alle Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen. Sie tragen dazu bei, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen und Bildungsbenachteiligungen abzubauen. Zentral für das Gelingen eines qualitativ hochwertigen Angebotes an Offenen Ganztagsschulen ist die intensive Zusammenarbeit zwischen Schulen und Partnern aus der Kinder- und Jugendhilfe. Trotz unterschiedlicher Ausgangslagen von Schule und Jugendhilfe verfolgen beide Systeme in der Kooperation das gemeinsame Ziel, Bildung, Erziehung und Betreuung für junge Menschen zu ermöglichen, qualitativ gute Angebote zu entwickeln sowie individuelle Förderung, Teilhabe und Inklusion zu stärken.
Mit rund 80 Prozent stellen Träger mit Anschluss an die Freie Wohlfahrtspflege den weitaus größten Anteil an Organisationen und Institutionen, die sich für die Umsetzung und Gestaltung der außerunterrichtlichen Bereiche der OGS in NRW verantwortlich zeichnen. Die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen bedankt sich vor diesem Hintergrund für die Möglichkeit, zu den o. g. Anträgen der FDP-Fraktion und der SPD-Fraktion Stellung nehmen zu können.
Mit der Verabschiedung des Ganztagsförderungsgesetzes (GaFöG) sind die Weichen für einen Rechtsanspruch aller Schüler*innen auf einen Platz im Ganztag in der Primarstufe auf Bundesebene gestellt. Für die Umsetzung des Rechtsanspruchs in Nordrhein-Westfalen bedarf es aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege NRW folgender Punkte:
- Wir fordern ein eigenständiges Ausführungsgesetz auf der Grundlage des SGB VIII, um landesweit einheitlich geltende Standards zu ermöglichen. Das Ausführungsgesetz muss sowohl jugendhilferechtlich als auch schulrechtlich verankert werden.
- Die gemeinsame Verantwortung von Jugendhilfe und Schule muss verpflichtend gesetzlich verankert werden und sich in gemeinsamen pädagogischen Konzepten auf Basis der Bildungsgrundsätze für Kinder von 0-10 Jahren widerspiegeln.
- Ein Fachkräftegebot für die Angebote der ganztägigen Bildung, Erziehung und Betreuung halten wir für unerlässlich. Vor dem Hintergrund des bereits bestehenden Fachkräftemangels sind Qualifizierungs- und Weiterbildungsangebote zu etablieren, um neue Fachkräfte aus- und Bestandspersonal weiterbilden zu können.
- Öffentliche Ausschreibungen von OGS-Trägerschaften führen nicht zu einer Qualitätssteigerung und sind mit Blick auf pädagogische Konzepte und verlässlichen Beziehungspartnerschaften zu unterlassen.
- Wir fordern eine verlässliche und auskömmliche Finanzierung der Offenen Ganztagsangebote, die eine am Wohl des Kindes orientierte Qualität ermöglicht.
Die Landesregierung hat sich im Koalitionsvertrag zur Erarbeitung eines Landesausführungsgesetzes zur Umsetzung des (durch den Bund im Ganztagsförderungsgesetz vorgegebenen) Rechtsanspruchs auf einen Platz im Ganztag ab dem Schuljahr 2026/27 bekannt. Die am 7. März 2024 von der Landesregierung vorgelegten fachlichen Grundlagen sind nicht ausreichend, um ein qualitativ hochwertiges Angebot im Ganztag gewährleisten zu können. Es werden landesweit einheitlich gültige Standards benötigt, bspw. im Hinblick auf die Mitarbeitenden und deren Qualifikation, zum zeitlichen Umfang des Ganztagsangebotes inklusive einer Regelung auch zu den Ferienzeiten, zu Gruppengrößen, zu Raumgrößen, etc.
Wir fordern in Offenen Ganztagsschulen ein Fachkräftegebot sowie eine verbindlich festgelegte Fachkraft-Kind-Relation. Neben Lehrkräften muss ein qualitatives Ganztagsangebot durch ausgebildete pädagogische Fachkräfte (Abschluss der Erzieher/-in, Sozialpädagogik oder vergleichbare Qualifikation) gekennzeichnet sein¹. Ergänzend können auch weitere pädagogische und nicht-pädagogische Kräfte (wie Kinderpfleger/- innen, Student*innen, Quereinsteiger/-innen etc.) im Offenen Ganztag tätig sein. Diese sollten durch geeignete Fort- und Weiterbildungsangebote auf ihre Arbeit in Ganztagsschulen vorbereitet und (weiter)qualifiziert werden. Offene Ganztagsschulen sollten gekennzeichnet sein durch multiprofessionelle Teams von Schule und Jugendhilfe. Um ein kooperatives Zusammenwirken zu gewährleisten, sollte u.a. eine Beteiligung des OGS-Trägers in schulischen Gremien (Schulpflegschaft, Schulkonferenz) verbindlich festgeschrieben werden.
Als Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in NRW wissen wir um den Fachkräftemangel, der die Einführung von Standards im Offenen Ganztag erheblich erschwert. Andererseits sollten diese Herausforderungen nicht dazu führen, damit den Verzicht auf jegliche personellen Standards im Offenen Ganztag zu legitimieren. Vielmehr sind Übergangsregelungen zu schaffen, flankiert von einer Fachkräfteoffensive für die OGS und Qualifizierungsangeboten für Beschäftigte ohne entsprechende Ausbildung. Grundsätzlich gilt es, die Rahmenbedingungen und damit auch Arbeitsbedingungen zu verbessern, um qualifiziertes Personal nicht nur gewinnen, sondern auch halten zu können: Bei der Mehrheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Offenen Ganztagsschulen in NRW handelt es sich um Fachkräfte, die in Teilzeit beschäftigt sind². Viele Fachkräfte in der OGS wünschen sich Aufstockungen der wöchentlichen Arbeitsstundenzahl, um mehr Ressourcen für zum Beispiel die Vor- und Nachbereitung ihrer Angebote oder für Gespräche mit Eltern und Lehrkräften zu haben. Zudem könnten sie sich bei Personalausfällen besser gegenseitig vertreten und noch stärker dem politischen gewollten Bildungsauftrag gerecht werden. Damit die OGS nicht nur als Betreuungsangebot, sondern vielmehr als wichtiger Bildungsort wahrgenommen wird! Nicht zuletzt ist im Sinne des Kinderschutzes ein verbindlicher Personalschlüssel einzuführen.
Offene Ganztagsschulen sind in vielen Kommunen Nordrhein-Westfalens nicht auskömmlich refinanziert. Zudem bestehen aufgrund der unterschiedlichen kommunalen Finanzierungsanteile landesweit große Unterschiede bei der Ausgestaltung der OGS. Eine in einem Gesetz geregelte auskömmliche Finanzierung der Ganztagsangebote ist aus unserer Sicht unerlässlich. Seit mehreren Jahren weist die Freie Wohlfahrtspflege auf ein strukturelles Finanzierungsdefizit der OGS hin, dass die Träger zum Teil durch Querfinanzierungen ausgleichen müssen. Die Freie Wohlfahrtspflege kommt in eigenen Berechnungen zu dem Schluss, dass die Pauschalen pro Kind und Schuljahr für ein qualitativ angemessenes und auskömmlich finanziertes Angebot mehr als doppelt so hoch ausfallen müssten. Auf Basis des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst besteht demnach für den Betrieb einer OGS-Gruppe mit 25 Kindern ein Finanzierungsbedarf in Höhe von rund 128.000 Euro. Die landesseitige Förderung (inkl. kommunaler Pflichtanteil) beträgt aber nur rund 50.000 Euro. Werden die bestehenden Kosten nicht refinanziert, gibt es für die Träger im Grunde zwei Möglichkeiten: Massive Abstriche bei der Qualität der Angebote oder entsprechende Angebote ganz aufzugeben.
Die Freie Wohlfahrtspflege richtet daher einen eindringlichen Appell an die Landesregierung, ihrer Verantwortung nachzukommen und unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, ein zentrales Bildungs-, Erziehungs-, Betreuungs- und Förderangebot unseres Landes zu erhalten. Nicht nur vor dem Hintergrund des Rechtsanspruchs auf ganztägige Betreuung ab dem Jahr 2026 können wir uns in Nordrhein-Westfalen das drohende leise Sterben dieser wichtigen sozialen Infrastruktur nicht erlauben.
Quellen:
¹ Vgl. hierzu auch die 2018 gemeinsam von Schul- und Familienministerium herausgegebenen „Bildungsgrundsätze für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Kindertagesbetreuung und Schulen im Primarbereich in Nordrhein-Westfalen".
² Vgl. hierzu die Ergebnisse zum Personaltableau der Bildungsberichterstattung Ganztagsschule NRW.