Vom deutschen Job-Boom haben in den vergangenen Jahren fast alle gesellschaftlichen Gruppen profitiert – bis auf Schwerbehinderte. Die Zahl der schwerbehinderten Arbeitslosen in Nordrhein-Westfalen bewegt sich mit derzeit rund 47.000 auf hohem Niveau. „Auch neun Jahre nach Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention, die einen inklusiven Arbeitsmarkt verlangt, ist eine Schwerbehinderung noch ein gravierendes Vermittlungshindernis“, kritisiert Christian Heine-Göttelmann, Vorsitzender der Freien Wohlfahrtspflege NRW. Dabei sind mit 58,8 Prozent deutlich mehr als die Hälfte der schwerbehinderten Arbeitslosen für komplexere Tätigkeiten als Fachkraft, Spezialist oder Experte qualifiziert. Von den nicht-schwerbehinderten Arbeitslosen erfüllen nur 42,7 Prozent dieses Anforderungsniveau.
„Einerseits klagt die Wirtschaft darüber, nicht genug qualifizierte Fachkräfte auf dem Bewerbermarkt zu finden, andererseits nutzen vor allem private Unternehmen das Potenzial von Menschen mit Behinderungen nicht“, beklagt Heine-Göttelmann. „Sie zahlen lieber eine Ausgleichsabgabe.“ Ab einer Größe von 20 Arbeitsplätzen sind private und öffentliche Arbeitgeber in Deutschland verpflichtet, wenigstens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen.
Der aktuelle Arbeitslosenreport der Freien Wohlfahrtspflege NRW zeigt, dass private Arbeitgeber 2016 mehr als ein Viertel dieser sogenannten Pflichtarbeitsplätze unbesetzt ließen. Von insgesamt 204.000 Pflichtarbeitsplätzen blieben 54.000 Stellen offen. Im öffentlichen Sektor mit knapp 59.000 Pflichtarbeitsplätzen dagegen lag der Anteil der unbesetzten Stellen mit 4,5 Prozent relativ niedrig.
Als Grund für ihre starke Zurückhaltung bei der Einstellung von Menschen mit Behinderung nennt die Privatwirtschaft häufig den bürokratischen Aufwand. Der Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege lässt das nicht gelten. „Unternehmen, die schwerbehinderte Menschen einstellen, stehen diverse Förder- und Unterstützungsangebote der Bundesagentur für Arbeit, Kammern oder auch Integrationsämter zur Verfügung“, erklärt Heine-Göttelmann. Insbesondere die Integrationsfachdienste, die oftmals von der Freien Wohlfahrtspflege getragen werden, sind kompetente Ansprechpartner. Sie kennen den regionalen Arbeitsmarkt, haben zu vielen Firmen Kontakt und unterstützen behinderte Menschen und Arbeitgeber bei der Vermittlung oder Besetzung einer Arbeitsstelle und bei Problemen am Arbeitsplatz. „Offenbar reichen die finanziellen und praktischen Hilfen aber nicht aus, um die Vorurteile und Ängste vieler Firmenleitungen abzubauen.“
Sollten Unternehmen ihrer gesetzlichen Beschäftigungspflicht weiterhin nicht nachkommen, müsse über die Höhe der Ausgleichsabgabe ernsthaft nachgedacht werden, fordert der Vorsitzende. Schließlich verpflichte die UN-Behindertenrechtskonvention Deutschland zur Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes. „Wollen sich Arbeitgeber daran nicht beteiligen, müssen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln aus der Ausgleichabgabe weitere Inklusionsarbeitsplätze bei am freien Markt agierenden Inklusionsbetrieben eingerichtet werden.“ Das Menschenrecht auf Arbeit gelte für auch für Menschen mit Behinderung.
Hintergrund
Der aktuelle Arbeitslosenreport „Schwerbehinderte am Arbeitsmarkt“ der Freien Wohlfahrtspflege NRW befasst sich explizit nur mit erwerbsfähigen Schwerbehinderten, die unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein können und deshalb in den statistischen Angaben der Bundesagentur für Arbeit mit berücksichtigt werden. Die Situation von schwerbehinderten Menschen, die nicht, noch nicht oder nicht wieder erwerbsfähig im o. g. Sinne sind, ist nicht Thema dieses Arbeitslosenreports.