Nach drei Jahren intensiver Verhandlungen ist es geschafft: NRW legt die Grundlage für den weiteren Ausbau der Komplexleistung Frühförderung in den Kommunen. Arbeits- und Sozialminister Schmeltzer und Gesundheitsministerin Steffens, die Krankenkassenverbände NRW, der Städte- und der Landkreistag und die Freie Wohlfahrtspflege haben zum gestrigen Tag ihre Unterschriften unter die neue Landesrahmenempfehlung gesetzt. Sie kann somit ab sofort in den Kommunen Anwendung finden.
„Früh und konsequent fördern: Eine erfolgreiche Inklusionskette schaffen“. Auf dieser Grundlage fordert die Landesregierung im Koalitionsvertrag einheitliche Standards zur Dauer und Inhalt von Diagnostik und bei der Förderung von Kindern mit Behinderung oder Entwicklungsverzögerung durch die Komplexleistung Frühförderung.
Eine Arbeitsgruppe der beiden federführenden Ministerien mit den beteiligten Kostenträgern, der Freien Wohlfahrtspflege, der Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung und dem Landesverband Körper- und Mehrfachbehinderte NRW e.V. hat die neue Landesrahmenempfehlung Frühförderung erarbeitet.
Eine vom Land NRW in Auftrag gegebene landesweite Evaluation hatte zuvor eindrucksvoll die Mängel der bisherigen Empfehlung aufgezeigt und den Bedarf zur Weiterentwicklung unterstrichen. Sie belegte auch, dass die Komplexleistung Frühförderung wirkt: Sie unterstützt die Entwicklung von behinderten oder von Behinderung bedrohter Kinder und ermöglicht Entwicklungsrückstände zu mildern und Kompetenzen zu entwickeln, die die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft fördern. Sie ist Beispiel dafür, wie durch frühzeitige vorbeugende Hilfen und integrierte Maßnahmen Risikofaktoren erfolgreicher Entwicklung minimiert, Teilhabe frühzeitig ermöglicht und soziale und gesundheitliche Folgekosten vermieden werden können.
Allerdings zeigte die Studie auch, wie unterschiedlich die Strukturen der Frühförderung in NRW sind: Während im Rheinland fast flächendeckend Komplexleistung angeboten wird, sind es in Westfalen-Lippe bisher nur wenige der 27 Kommunen. Hier findet überwiegend rein heilpädagogische Frühförderung statt. Bei Bedarf erhalten die Kinder dann separate medizinisch-therapeutische Behandlung. Eine systematische Abstimmung der Maßnahmen ist hier nicht gesichert. Ziel der Überarbeitung der Rahmenempfehlung war die Stärkung der Komplexleistung und ihre Ausweitung auf weitere Städte und Kreise.
Wichtige Inhalte im Einzelnen sind:
- Eine landesweit einheitliche Kalkulationsmatrix und ein Muster-Vertrag für Leistungsanbieter und Kommune bietet eine gute Grundlage für die Umsetzung der Komplexleistung in allen Kommunen NRW-weit, lassen aber genügend Spielraum für evtl. notwendige Anpassungen an lokale Gegebenheiten. Insbesondere für Kommunen, die bislang keine Interdisziplinäre Frühförderstelle (IFF) haben, sind sie eine Unterstützung dabei, die finanziellen Wirkungen einer IFF bemessen zu können. Außerdem ermöglichen sie, die bislang uneinheitliche (Fall)kostenteilung zwischen Kassen und Kommunen weiter zu standardisieren.
- Auch die Finanzierung der direkten Elternberatung wird erweitert. Ebenso ist es möglich ein offenes, niedrigschwelliges Beratungsangebot durch die Kommune finanzieren zu lassen. Dies ist u.a. wichtig für Eltern, die sich scheuen, Entwicklungsauffälligkeiten ihres Kindes direkt mit einem Mitarbeiter der Stadt oder des Kreises zu erörtern, sondern lieber den geschützten Raum einer Frühförderstelle aufsuchen möchten.
- Die Qualität der Arbeit der Frühförderstellen wird weiter standardisiert, bspw. mit Vereinbarungen zu personellen Anforderungen und Qualifikation des Personals in den IFF.
- Die Vereinbarungspartner haben sich zu einem landesweiten Qualitätsdialog verpflichtet. Die Entwicklung von Qualitätsstandards in Einrichtungen, aber auch auf Seiten der Kostenträger was Bewilligung und Abwicklung der Förderung angeht, wird damit weitergeführt.
- Um die interdisziplinäre Frühförderung stetig qualitativ weiterzuentwickeln und ihre Umsetzung in ganz NRW zu evaluieren, hat die Landesregierung zugesagt, 3 Jahre nach Inkrafttreten der aktualisierten Empfehlung eine Überprüfung der Wirkungen der Empfehlung anzustoßen und sich finanziell daran zu beteiligen.
Die Freie Wohlfahrtspflege ist zufrieden mit den erreichten Verbesserungen – Andreas Johnsen, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege: „Das ist ein gutes Ergebnis für die vielen Kinder in unserem Land, die sowohl medizinisch-therapeutische Maßnahmen als auch heilpädagogische Förderung benötigen und für die Frühförderstellen, die interdisziplinär arbeiten. Insbesondere für Westfalen-Lippe ist die neue Rahmenempfehlung eine gute Grundlage, das Angebot der Komplexleistung weiter auszubauen. Nun ist es an allen Beteiligten, sich für eine rasche Anwendung der Empfehlung in den Kommunen einzusetzen.“
Was ist Frühförderung?
Unter dem Begriff Frühförderung werden pädagogische und therapeutische Maßnahmen für
Kinder mit einer Behinderung oder die von einer Behinderung bedroht oder
entwicklungsauffällig sind, verstanden. Sog. Frühförderungsstellen können diese Kinder bei
entsprechender Überweisung vom Kinderarzt von Geburt an bis maximal zum Schuleintrittgezielt fördern und begleiten und so Teilhabe an ihrem Lebensumfeld ermöglichen. Je früher Kinder mit Behinderungen und Entwicklungsverzögerungen gefördert werden, umso besser und selbstbestimmter können sie ihr späteres Leben bewältigen.
Mit in Kraft treten des SGB IX im Jahre 2001 wurde die gesetzliche Grundlage geschaffen, dass heilpädagogische und medizinisch-therapeutische Leistungen als Komplexleistung Frühförderung in Interdisziplinären Frühförderstellen (IFF) erbracht werden können. Die Frühförderungsverordnung (FrühV) vom 24.06.2003 regelt wesentliche Aspekte der Umsetzung und sieht die Möglichkeit vor, Näheres zu Anforderungen an IFF in Landesrahmenempfehlungen zu regeln.
Die Komplexleistung Frühförderung besteht aus einer Kombination von heilpädagogisch - psychologischen mit kinderärztlichen und medizinisch-therapeutischen Maßnahmen. Die Therapieziele des Kindes und die dazu notwendigen Maßnahmen werden nach einer interdisziplinären Diagnostik und einem fachlichen Austausch zwischen den beteiligten Heilpädagogen und Medizinern/Therapeuten in einem Förder- und Behandlungsplan festgehalten und regelmäßig überprüft. Dieser individuelle Behandlungsplan enthält eine heilpädagogische Förderung kombiniert mit Physiotherapie, Ergotherapie oder Logopädie – je nach Notwendigkeit. Auch eine Kombination mehrerer medizinisch-therapeutischer Behandlungsformen ist neben der heilpädagogischen Förderung möglich.