Die neue schwarz-gelbe Landesregierung hat ihr Regierungshandeln unter das Leitwort „Maß und Mitte“ gestellt. Was bedeutet das aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege in NRW für die Gesundheits- und Sozialpolitik des Landes?
Es kommt sehr darauf an, was mit „Maß und Mitte“ gemeint ist. Seit Jahren entwickeln sich in unserem Land und insbesondere zwischen ärmeren und reicheren Kommunen die Möglichkeiten zur Förderung von Menschen, die Unterstützung brauchen, weiter auseinander. Wenn hier „Maß und Mitte“ wieder hergestellt werden soll, geht dies nicht ohne die Kommunen und die überörtlichen Sozialhilfeträger, also die Landschaftsverbände. Das Land kann hier mehr Verantwortung übernehmen und muss für eine entsprechende Ausstattung sorgen. Wir wollen, dass keiner abgehängt wird.
Wo sehen Sie die sozialpolitischen Schwerpunkte der Freien Wohlfahrtspflege in den kommenden zwei Jahren?
Die Schwerpunkte unserer Arbeit richten sich nach den aktuellen Not- und Bedarfslagen und den großen Entwicklungslinien. Beispiel Kinderbetreuung: Beruf und Familie lassen sich nur vereinbaren, wenn ausreichend Kita-Plätze zur Verfügung stehen und alle Kinder gut und verlässlich betreut werden. Auch in Schulen und Ganztagsschulen. Und das müssen sich alle Eltern leisten können. Wir sind der Meinung, dass der Markt ebenso wenig allein wie die staatliche Steuerung für sich genommen passende Angebote für benachteiligte Menschen schaffen und Armut wirksam bekämpfen kann. Wir brauchen einen sozial geförderten Arbeitsmarkt, der sich mit einem sogenannten „Passiv-Aktiv-Transfer“ finanzieren lässt. Kernpunkt ist, Arbeit und nicht Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Gelder, die den Langzeitarbeitslosen ohnehin über Hartz IV zur Verfügung stehen, sollten in den sozialen Arbeitsmarkt einfließen.
Was muss in der nordrhein-westfälischen Sozialpolitik dringend angepackt werden?
Die Herausforderung, die eine alternde Bevölkerung mit sich bringt, zeigt sich derzeit in der Pflege und der Gesundheitsversorgung. Die Landesregierung schätzt, dass in NRW bis 2040 rund 70.000 Pflegekräfte fehlen werden. Inklusion und Teilhabe werden immer weiter dazu führen, dass Menschen selbstbestimmt leben wollen und können. Das muss qualitativ gut organisiert werden bei unterschiedlichen Kostenträgern. Dabei ist uns klar, dass es auch in der Pflege keine Kostenexplosion geben darf. Für diese Herausforderungen sind frische Ideen gefragt.
Sie haben bereits etliche Gespräche mit Ministerinnen und Ministern, auch mit Staatssekretären geführt. Wie ist das Gesprächsklima?
Das Interesse an der Arbeit und den Impulsen der Freien Wohlfahrt ist gut, auch bei den neuen Abgeordneten des Landes. Wir bieten uns mit Gestaltungsideen und Impulsen unserer Experten für Gespräche an. Es gibt natürlich auch die weit verbreitete Skepsis gegenüber allen Institutionen – die Verbände eingeschlossen. Auch wir gelten gelegentlich als Lobbyisten für Wirtschaftsunternehmen. Wir sehen uns als Partner der Politik für die Bewältigung der Herausforderungen und beziehen zugleich Position für die Menschen, für die hier Zukunft gestaltet werden soll. Es haben sich bereits gute Dialoge zur Gestaltung der offenen Ganztagsschule, zur Zukunft der Pflege und der Behindertenhilfe ergeben. Wir knüpfen daran an.
In ihren Wahlprüfsteinen hat die Freie Wohlfahrtspflege für eine vielfältige, menschenrechtliche und tolerante Gesellschaft plädiert. Wie kann diese Grundposition gegenüber der Fraktion der AfD vertreten werden, die jetzt mit im Landtag sitzt?
Unsere Gesellschaft ist noch immer solidarisch geprägt von Menschen, die sich engagiert für die Integration von Flüchtlingen einsetzen. Viele Ehrenamtliche sind bei uns in der ganzen Freien Wohlfahrtspflege in diesem Arbeitsfeld aktiv. Diese Haltung werden wir weiter verstärken. Im politischen Geschehen machen die Wohlfahrtsverbände die Erfahrung, dass von AfD-Vertretern eher Foren der medienwirksamen Darstellung gesucht werden, als dass ein produktiver Beitrag zur parlamentarischen Arbeit geleistet wird.
Jeder kennt das Rote Kreuz, 90 Prozent der Menschen kennen die Caritas oder auch die Diakonie. Die Freie Wohlfahrtspflege als Ganzes wirkt aber eher wie ein Scheinriese. Welche Chancen sehen Sie, dass die gesamte Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege zu gemeinsamen und schlagkräftigen Positionen und Aktionen findet?
Ich sehe da gute Chancen. Die Wahlprüfsteine der LAG zeigen, wie viele gemeinsame Positionen die Wohlfahrtsverbände miteinander verbinden. Die uns angeschlossenen Einrichtungen beschäftigen gut eine halbe Million Menschen in NRW und genauso viele arbeiten ehrenamtlich mit. Das gemeinsame Interesse aller ist die soziale Gestaltung unseres Landes, die Hilfe für Menschen in unserer Mitte und die inklusive professionelle Förderung von Menschen mit Bedarf. Darauf kommt es an.