Der Abschiebestopp im vergangenen Jahr ist ausgelaufen. Dabei haben die Lebensbedingungen im Irak keine Verbesserung ergeben. Im Folgenden werden die Gründe dafür dargestellt.
1) Andauernde bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren in der Region Shingal
2017 fand ein Referendum statt, in dem die Autonome Region Kurdistan als autonom anerkannt wurde. Ein Referendum für die Region Shingal steht noch aus. 2020 einigten sich die irakische Zentralregierung und die Autonome Region Kurdistan auf das Shingal-Abkommen. Das Abkommen beinhaltet gemeinsame Ziele für den Wiederaufbau und die Wiedereinführung administrativer Strukturen. Der Wiederaufbau geht schleppend voran, die fehlende Infrastruktur macht ein Leben in Shingal unmöglich.
In Shingal sind verschiedene (para) militärische Gruppen mit unterschiedlichen Zielsetzungen präsent, was regelmäßig zu Spannungen und bewaffneten Auseinandersetzungen führt. Meinungsverschiedenheiten über die künftige Zugehörigkeit der Region – ob zur Zentralregierung, zur Autonomen Region Kurdistan oder zu einer eigenständigen Verwaltung – tragen zu einem anhaltenden administrativen Vakuum bei. Es kommt immer wieder zu sicherheitsrelevanten Vorfällen.
In der Region finden regelmäßig Luftangriffe statt, die mit der Präsenz bestimmter bewaffneter Gruppen begründet werden. Dabei kamen bereits zahlreiche Zivilist*innen ums Leben und immer wieder wurden öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser bombardiert. Weitere Angriffe auf die Region sind nicht auszuschließen.
Zudem sind in der Grenzregion zu Syrien weitere bewaffnete Akteure aktiv, die insbesondere wirtschaftliche und strategische Interessen verfolgen und in Drogen- und Waffenschmuggel verstrickt sind.
Auch wenn der sogenannte Islamische Staat (IS) als militärisch besiegt gilt, bestehen weiterhin ideologische Strukturen fort. Rund um Shingal gibt es zahlreiche Schläferzellen, die sich in Tunneln und Höhlen verstecken und Anschläge verüben. Zudem sind Jesid*innen weiterhin Diskriminierung, Verfolgung und Vertreibung ausgesetzt. Die Region gilt daher nach wie vor als ein unsicherer Lebensraum für Jesid*innen und eine innerstaatliche Fluchtalternative innerhalb des Irak ist nicht gegeben.
2) Prekäre Lebensbedingungen
Obwohl für den Wiederaufbau in der Region Shingal erhebliche Mittel bereitgestellt wurden, schreitet der Wideraufbauprozess bislang nur langsam voran. Überall in der Region sind noch immer Minen und Sprengfallen verstreut. Laut IOM sind rund 80 Prozent der öffentlichen Infrastruktur und 70 Prozent der Wohnhäuser in Shingal und Umgebung zerstört, Wasser- und Abwassersysteme funktionieren größtenteils nicht.
Die einzige Möglichkeit für Jesid*innen nach der Abschiebung ist ein Leben in einem der Flüchtlingslager im Nordirak, wo laut Angaben von IOM mehr als 200.000 Jesid*innen untergebracht sind. In den Lagern sind gravierende Defizite hinsichtlich Hygiene, Gesundheitsversorgung, Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildung festzustellen. Die Zelte bieten im Winter keinen Schutz vor Kälte und Regen und im Sommer sind sie zu heiß, was immer wieder zu Bränden führt. Zudem gibt es kaum diagnostische und therapeutische Maßnahmen. Jahrhundertelange Verfolgung und Unterdrückung erschweren den Aufbau einer Existenzgrundlage sowie politische und religiöse Selbstbestimmung für Jesid*innen. Aktuell wird die Schließung der IDP-Camps im Nordirak vorangetrieben, was viele Jesid*innen in die Obdachlosigkeit zwingt.
3) Retraumatisierung
Jesid*innen leiden unter multipler, generationsübergreifender Traumatisierung. Der Traumaexperte Jan Ilhan Kizilhan betont, dass das Leben in Deutschland die wichtigste Phase der Traumaverarbeitung darstellt. Abschiebungen können auch bei Menschen mit zuvor positiver Resilienz zu einem Trauma-Erwachen führen. Jesidische Familien wurden durch die IS-Gefangenschaft voneinander getrennt und viele wissen bis heute nicht, ob ihre Angehörigen noch leben. Eine erneute Trennung der Familie durch Abschiebungen kann zu einer Retraumatisierung führen. Um eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) behandeln zu können, ist ein sicheres Umfeld die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. Im Irak sind die Jesid*innen ständiger Verfolgung und Bedrohung ausgesetzt, sodass dieser permanente Angstzustand zu einer chronischen Erkrankung führen kann und eine Therapie oft unbehandelt bleibt. Die geplanten Abschiebungen führen daher zu einem deutlichen Anstieg des Stressniveaus. Angst ist ein wichtiger Faktor, der die Krankheit verschlimmern oder sogar chronifizieren kann.
Forderungen:
Aufgrund militärischer Konflikte, Bombenangriffe und prekärer Lebensbedingungen haben Jesid*innen keine Möglichkeit, nach Shingal zurückzukehren. Ihnen bleibt nur die Möglichkeit, in einem der noch bestehenden Flüchtlingslager, die von NGOs als prekär beschrieben werden, oder in Obdachlosigkeit zu leben. Dies bestätigen auch deutsche Gerichte mit Verweis auf die anhaltenden Gefahren und mangelnde Existenzsicherung für Jesid*innen im Irak (VG Gelsenkirchen, 15a K 3284/22.A; VG Stade, 2 A 1474/22).
Mit der Anerkennung des Völkermords hat sich die deutsche Regierung verpflichtet, die Jesid*innen vor weiterer Verfolgung zu schützen und ihnen zur Seite zu stehen. Menschen, die als Überlebende des Völkermords anerkannt wurden, dürfen nicht in das Land abgeschoben werden, in dem der Völkermord stattfand.
Deshalb appellieren wir an das MKJFGFI
- die Ausländerbehörden anzuweisen, von Abschiebungen von Jesid*innen abzusehen.
- sich dafür einsetzen, dass eine Landesaufnahmeanordnung verabschiedet wird, die in Nordrhein-Westfalen lebenden Jesid*innen eine gesicherte Aufenthaltserlaubnis gewährt. Diese Landesaufnahmeverordnung muss neben Frauen und Kin dern auch Männer einschließen.
- beim Bundesministerium des Innern und für Heimat gemäß § 23 Absatz 1 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes das Einvernehmen für die Aufenthaltserteilung aus humanitären Gründen nach § 23 Absatz 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes für in NRW lebende Jesid*innen herzustellen. Da die nach § 23 Absatz 1 zu erteilende Aufenthaltserlaubnis von Gesetzeswegen nicht zur Erwerbstätigkeit berechtigt, sollte die Anordnung vorsehen, dass die Erwerbstätigkeit erlaubt ist.
Als Vorbild dafür kann die Landesregierung Schleswig-Holstein genannt werden, die einstimmig beschlossen hat, eine Landesaufnahmeanordnung beim BMI zu beantragen.
Deutscher Bundestag. (n.d.). In: www.bundestag.de/services/glossar/glossar/B/bundesregierung-245360 (abgerufen 15.03.2025).
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