Im Antrag wird erläutert, dass die Zahl der Einschätzungen von Kindeswohlgefährdungen stark gestiegen ist und die Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen (ION) in den letzten zwei Jahren um 40 % zugenommen haben. Verdeutlicht wird, dass die Suche nach geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten in stationären Wohngruppen oder in Pflegefamilien oft sehr langwierig und aufwändig sei – und in manchen Fällen gar nicht gelingt.
1. Sachlage aus Sicht der LAG FW NRW
In § 1 SGB VIII ist das zentrale Ziel der Jugendhilfe wie folgt beschrieben: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“1 Im Weiteren wird die Verantwortung der Eltern betont sowie weitere Ziele und Aufgaben der Jugendhilfe differenziert beschrieben. § 3 SGB VIII ff. beschreibt im Sinn des Subsidiaritätsprinzips, dass die Aufgaben der Jugendhilfe durch freie und öffentliche Träger partnerschaftlich erbracht werden sollen und die öffentliche Jugendhilfe von eigenen Maßnahmen absehen soll, soweit anerkannte freie Träger sie betreiben oder rechtzeitig schaffen können.
Die Jugendämter als örtliche Träger der Jugendhilfe gliedern sich in Jugendhilfeausschüsse (politisches Gremium) und die Verwaltung (Fachbehörde). Die Jugendhilfeausschüsse tragen die Verantwortung für die inhaltliche Ausrichtung, Planung und Steuerung der Jugendhilfe einer Kommune. Sie müssen insbesondere auch die freie Jugendhilfe einbeziehen und in ihrer Mitwirkung stärken. Die Verwaltung ist für die Umsetzung von Maßnahmen, Angeboten und Hilfen, die Gewährleistung des Kinderschutzes sowie die Steuerung des Gesamtprozesses zuständig – sie handelt auf Grundlage der Beschlüsse des Jugendhilfeausschusses. Freie Träger sind unverzichtbare Partner. Sie sind Anbieter der Hilfen zur Erziehung (ambulant, teilstationär und stationär, § 27 ff. SGB VIII ff.).
Bezogen auf die Hilfe zur Erziehung (HzE) sind es zunächst die sorgeberechtigten Bürgerinnen und Bürger, die einen Rechtsanspruch haben und im Rahmen des sozialrechtlichen Dreiecks die geeignete Hilfe gemeinsam mit den Fachkräften der Jugendämter und der freien Träger planen – lange bevor es zu Kindeswohlgefährdungen kommt –, um deren Entstehen zu verhindern.
Die Recherche des WDR verdeutlicht, dass es vielen Jugendämtern nicht mehr möglich ist, Sorgeberechtigte frühzeitig zu beraten, dem Rechtsanspruch der Bürgerinnen und Bürger zu entsprechen und Entwicklungen, die das Kindeswohl gefährden, frühzeitig zu erkennen und zu stoppen.
Die Zahlen der Inobhutnahmen sind steigend. Im Jahr 2022 wurden 16.546 junge Menschen in Obhut genommen; im Jahr 2024 waren es bereits 17.348. Zu berücksichtigen ist, dass im Jahr 2024 43% der in Obhut genommenen jungen Menschen, unbegleitet minderjährige Ausländer waren (§ 42a SGB VIII). ²
Die durch die WDR-Recherche beschriebene Überlastung der Verwaltungen der Jugendämter, insbesondere der Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD), deckt sich mit zahlreichen Rückmeldungen, die den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege von ihren Mitgliedern vorliegen. So berichten Mitarbeitende und Leitungsverantwortliche von Einrichtungen und Diensten der Kinder- und Jugendhilfe von Fällen, in denen
über längere Zeit offene Stellen in den Verwaltungen nicht besetzt werden können, so dass es keine zuständige Ansprechperson gibt oder diese für Fachkräfte, Kinder, Jugendliche und Eltern nicht bzw. nur in Bezug auf den Kinderschutz erreichbar ist.
- Hilfeplangespräche (HPGs) nur sehr selten oder nur online stattfinden können.
- Verwaltungen der Jugendämter nur Fälle von akuter Kindeswohlgefährdung bearbeiten können. Anträge auf Hilfe zur Erziehung ohne akute Kindeswohlgefährdung – auf deren Prüfung und ggf. Gewährung jedoch ein Rechtsanspruch besteht – können nicht bearbeitet werden, so dass entsprechende Hilfen nicht installiert werden. In einigen Fällen haben freie Träger daher in Eigeninitiative und mit eigenem finanziellem Risiko bereits mit der notwendigen Hilfe begonnen.
- Mitarbeitende der Jugendämter rückmelden, dass sie die meiste Zeit ihrer Arbeit damit verbringen, freie Plätze - zum Teil bundesweit - ausfindig zu machen, so dass andere Aufgaben hintenüberfallen.
Da die Mitarbeitenden der Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) für Kinder, Jugendliche und Familien eine wichtige und kontinuierliche Begleitung gewährleisten müssen – insbesondere durch die Beratung bei der Gestaltung der Hilfen zur Erziehung – sind Beziehungsqualitäten unerlässlich. Diese entstehen durch Vertrauen und Verlässlichkeit und können erst durch regelmäßige Begegnungen aufgebaut und gestärkt werden. Fehlendes und stetig wechselndes Personal im ASD führen zu einem Vertrauensverlust und Kindeswohlgefährdungen werden ggf. nicht rechtzeitig erkannt.
Doch nicht nur in den ASDs, sondern auch bei den freien Trägern nimmt die Überlastung zu.
Bezogen auf die einzelnen Unterstützungsformen der HzE ergibt sich aus Sicht der LAG FW folgende Situation:
Familienberatungsstellen
Familienberatungsstellen bieten mit ihren multiprofessionellen Teams niedrigschwellige Beratung für Eltern und andere Sorgeberechtigte, Kinder und Jugendliche mit oft komplexen individuellen oder familiären Problemlagen an. Das Beratungsangebot deckt vielerorts auch Beratung bei Trennung und Scheidung sowie in Fragen der Personensorge ab.
Wie schon erwähnt, wird auf Familienberatungsstellen von Jugendämtern immer öfter als erste Anlaufstellen in akuten Krisen verwiesen. In vielen Fällen benötigen Ratsuchende aber noch intensivere Hilfen als die Unterstützung, die das Angebot und der Auftrag der Familienberatung leisten kann.
Die Wartezeit für Ratsuchende, die sich von sich aus direkt an Beratungsstellen wenden, verlängert sich dadurch in starkem Maße. Darüber hinaus wird so verhindert, dass Familienberatungsstellen wirksame präventive Angebote in Gruppensettings für Kinder und Jugendliche (bspw. für Kinder und Jugendliche, die von Trennung und Scheidung betroffen sind) fortführen können. Neben den Jugendämtern verweist zunehmend das überforderte Gesundheitssystem³ ebenso an Familienberatungsstellen bei insgesamt viel zu geringen Beratungskapazitäten. Seit 1993 gab es bis auf die spezialisierte Beratung gegen sexualisierte Gewalt keinenregelhaften Ausbau der Landesförderung mehr.
Die Landeszuschüsse für Beratungsstellen der öffentlichen Träger wurden für 2025 gestrichen. Die Landesförderungen für freie Träger sinken real jedes Jahr und wichtige Teilbereiche wurden 2025 gekürzt bzw. gestrichen.
Die LAG FW befürchtet, dass es statt eines bedarfsgerechten Ausbaus und einer Dynamisierung der Landesförderung zu weiteren Kürzungen oder gar eines Wegfalls der Landesförderung kommt, was einen Rückgang der Beratungskapazität in erheblichem Maße nach sich ziehen würde.
Ambulante Hilfen
Vielen Trägern der freien Jugendhilfe gelingt es auch im Bereich der ambulanten Hilfen nicht mehr, kostendeckende Vereinbarungen mit den öffentlichen Trägern abzuschließen. Die gemeinsamen Empfehlungen der Landesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in NRW (LAG ÖF) zur „Aushandlung Ambulanter Erziehungshilfen“⁴ werden von vielen öffentlichen Trägern nicht oder nur teilweise genutzt.
In der Folge der Unterfinanzierung müssen immer mehr Träger ihre Angebote in diesem Bereich einstellen. Damit gehen der Jugendhilfe – und somit den Jugendämtern – nicht nur dringend benötigte Kapazitäten verloren, sondern auch wertvolle Kompetenzen und Erfahrungen langjähriger Fachkräfte und Teams. Netzwerke im Sozialraum werden beschädigt oder zerstört, verortete Dienste verschwinden.
Hinzu kommt eine fachliche Überforderung: Die aus den Hilfeplangesprächen entstehenden Unterbringungen nach § 34 SGB VIII können auf Grund fehlender Plätze teilweise nicht rechtzeitig umgesetzt werden. Die dann zuständigen ambulanten / flexiblen Teams sind mit der Situation häufig überfordert, da sie im Rahmen ihrer originären Aufgaben für die Begleitung der Familie zuständig sind und nicht für die Sicherung des Kindeswohls, bei nicht erfolgter Unterbringung eines Kindes in einer Wohngruppe, da kein Platz gefunden wurde.
Teilstationäre Hilfen
Während in der Vergangenheit in vielen Kommunen teilstationäre Plätze, z.B. in Tagesgruppen, abgebaut wurden, gibt es zunehmend Kommunen, die diese Hilfeform wieder anfragen. Die LAG FW NRW spricht sich gegen ausschließlich finanzielle Gründe für eine Zuweisung zu einer Tagesgruppe aus. Auch kann man Tagesgruppen nicht grundsätzlich als nachfolgend zu einer ambulanten Hilfe oder vorlaufend zu einer stationären Hilfe sehen.
Tagesgruppen basieren auf 4 Säulen: pädagogische Arbeit mit dem Kind; Eltern bzw. Familienarbeit; Gruppenpädagogik; Förderung der sozialen Teilhabe. Die Hauptindikatoren für eine Tagesgruppe sind: familiäre Beziehungsprobleme, eine problematische Symptomatik beim Kind und/ oder Erziehungsprobleme. Entscheidenden Einfluss auf eine erfolgreiche Tagesgruppenarbeit ist die Mitwirkungspflicht und Veränderungsbereitschaft der Eltern. Eine Tagesgruppe kann nur familienergänzend, aber nicht -ersetzend agieren. Dies bedeutet, dass Kinder, die eine stationäre Hilfe benötigen, in einer Tagesgruppe nicht adäquat gefördert werden können.
Die LAG FW NRW beobachtet zudem einzelne Fälle, in denen Kommunen vor der Einrichtung neuer Tagesgruppen zunächst die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf den Offenen Ganztag abwarten wollen. Aber: In Abgrenzung zur OGS, zu deren Zielen neben der Betreuung, Freizeitgestaltung und Versorgung am Nachmittag zwar auch Erziehung und Bildung von Kindern gehören, geht es in den teilstationären Hilfen ganz wesentlich um eine Beziehungsarbeit, mit dem Zweck, die familiäre Situation zu verbessern und den Verbleib von Kindern (und Jugendlichen!) in der Familie zu sichern. Entsprechende intensive Arbeit mit den Familien können OGS-Angebote jedoch weder leisten noch ersetzen.
Stationäre Hilfen
Zunehmend gelangen Kinder und Jugendliche mit komplexen Hilfebedarfen in die stationäre Erziehungshilfe. Die veränderten Bedarfslagen der jungen Menschen erfordern eine konsequente Weiterentwicklung der stationären Angebote. Um eine Überforderung der Fachkräfte vorzubeugen, müssen diese angemessen geschult werden, um zum Beispiel Kinder mit psychiatrischen Krankheitsbildern pädagogisch fördern zu können.
Für die Träger der Hilfen zur Erziehung sind klare Ansprechpersonen in den Jugendämtern essenziell. Hilfeplangespräche sowie die Rücksprachen in kritischen Situationen des Hilfeverlaufs sind sehr wichtig, um nächste Schritte abzustimmen. Eine Aufgabenverschiebung hin zu den freien Trägern, indem diese z.B. Anschlussmaßnahmen suchen, führt zu zusätzlichen Belastungen der Fachkräfte in den stationären Hilfen. Sie brauchen stattdessen einen Gesprächspartner auf Augenhöhe, damit das jugendhilferechtliche Dreieck seine Wirksamkeit und die Hilfen zur Erziehung ihre Qualität entfalten kann.
Pflegefamilien
Mit rund 63.700 Einschätzungen einer Kindeswohlgefährdung im Jahr 2023⁵ – darunter 29.407 akute Kindeswohlgefährdungen – steigt der Bedarf an alternativen Betreuungsformen. Pflegefamilien bieten betroffenen Kindern eine verlässliche und beziehungsorientierte Umgebung, sind jedoch nicht in ausreichender Zahl vorhanden. Der Mangel führt zu vermehrten Unterbringungen in Wohngruppen – insbesondere bei jungen Kindern –, zumal die Kosten für eine stationäre Unterbringung um ein Vielfaches höher liegen als in einer Pflegefamilie.
Pflegeeltern übernehmen eine zentrale Aufgabe im Kinderschutz, werden jedoch rechtlich und finanziell weiterhin gegenüber leiblichen Eltern benachteiligt – etwa durch den fehlenden Anspruch auf Mutterschafts- oder Elterngeld. Die LAG FW NRW fordert eine Gleichstellung mit leiblichen Eltern sowie eine bessere Absicherung im Alltag, bei Altersvorsorge und im Falle reduzierter Erwerbstätigkeit.
Pflegefamilien benötigen zudem einen unkomplizierten Zugang zu niedrigschwelligen Entlastungsangeboten. Dafür braucht es in den Kommunen zweckgebundene Budgets, um kurzfristige Unterstützung im Alltag verlässlich zu gewährleisten. Auch Mittel für Akquise, Schulung, Supervision und begleitende Hilfen sind notwendig, um Pflegeverhältnisse zu stabilisieren und Pflegekindern gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Auch bei den Pflegefamilien ist die Überlastung der Jugendämter spürbar. Dies zeigt sich im Ausfall von Hilfeplangesprächen, oftmals mangelnde Kontaktmöglichkeit zum Jugendamt und unvollständiger Informationsübergabe.
Der zunehmende Mangel an geeigneten Pflegefamilien ist dabei Ausdruck derselben strukturellen Herausforderungen, die sich auch in anderen Bereichen der Jugendhilfe zeigen – insbesondere im Zusammenhang mit fehlenden Fachkräften und der unzureichenden finanziellen Ausstattung vieler Kommunen.
2. Ursachen aus Sicht der LAG FW
Ursachen dieser Entwicklungen sind aus Sicht der LAG FW neben dem steigenden Bedarf an Hilfen zur Erziehung in einigen Regionen Nordrhein-Westfalens auch der Mangel an geeigneten und qualifizierten Fachkräften für die unterschiedlichen Einrichtungen und Dienste. Vor allem aber ist die anscheinend unzureichende finanzielle Ausstattung vieler Kommunen ein entscheidender Faktor. In Verhandlungen mit den freien Trägern der Einrichtungen und Dienste betonen die Kommunen, dass ihre Finanzmittel zu gering sind, um die Kosten der Jugendhilfe und die Umsetzung der Rechtsansprüche gemäß SGB VIII zu decken.
An dieser Stelle weist die LAG FW deutlich darauf hin, dass die Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe – insbesondere für erzieherische Hilfen – keine konsumtiven Ausgaben sind, sondern Investitionen in eine soziale Infrastruktur, die für viele Kinder und Jugendliche lebenswichtig ist. Darüber hinaus ermöglichen diese Investitionen die Ausbildung von Fachkräften und tragen zur Stabilisierung der demokratischen Kultur unseres Staates und unseres Gemeinwesens bei⁶.
Die LAG FW NRW schließt sich dem offenen Brief der Bundesfachverbände für Erziehungshilfen⁷ in Deutschland vom 16.6.2025 an Bundeskanzler Friedrich Merz an, den diese als Reaktion auf die Aussagen des Kanzlers beim Kommunalkongress des Deutschen Städte- und Gemeindebundes 2025 veröffentlicht haben. Bundeskanzler Merz hatte die Kostensteigerungen in der Kinder- und Jugendhilfe kritisiert, was im Hinblick auf den Ausbau der Kindertagesbetreuung, den Rechtsanspruch auf OGS ab 2026 und die steigende Nachfrage nach Hilfen zur Erziehung aus Sicht der LAG FW nicht nachvollziehbar ist.
Die LAG FW NRW betont das eigentliche Problem: Bundesgesetze müssen in den Ländern und Kommunen umgesetzt werden, werden aber nicht ausreichend vom Bund finanziell hinterlegt.
3. Zur Beschlussfassung im Antrag der FDP-Fraktion positioniert sich die LAG FW wie folgt:
• Die Verwaltungen der Jugendämter, insbesondere die Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD), sowie die Einrichtungen und Dienste der freien Träger erbringen sich gegenseitig ergänzende Leistungen im Bereich der Hilfen zur Erziehung (HzE) und sind bei der Erfüllung ihrer Aufgaben aufeinander angewiesen. Daraus ergibt sich, dass sowohl die Jugendämter als auch die Dienste und Einrichtungen der freien Träger in Nordrhein-Westfalen für den Schutz von Kindern und Jugendlichen systemrelevant sind.
• Auch die unzureichenden Kapazitäten der Dienste und Einrichtungen der freien Träger im Bereich der HzE gefährden den Kinderschutz in den Kommunen Nordrhein-Westfalens. Sie verhindern zudem die notwendigen Hilfen für Sorgeberechtigte, die einen Rechtsanspruch auf Unterstützung haben, bevor es zu einer akuten Gefährdung des Kindeswohls kommt.
• Die LAG FW unterstützt die Forderung nach klaren und einheitlichen Standards für die Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Familien sowie die Sicherung des Kindeswohls in allen Kommunen Nordrhein-Westfalens.
Zu den Anträgen an den Landtag im Antrag der FDP-Fraktion positioniert sich die LAG FW NRW wie folgt:
• Die LAG FW NRW unterstützt das Anliegen, einheitliche Standards, bezogen auf den Antrag der FDP, bei den Leistungen der HzE und beim Schutz von Kindern und Jugendlichen zu etablieren. Die kommunale Selbstverwaltung muss dabei eine entsprechende Beachtung finden.
• Präventive Maßnahmen, wie z.B. Jugendzentren und Schulsozialarbeit, sowie Angebote, auf die Sorgeberechtigte einen Rechtsanspruch haben, wie z.B. OGS und Hilfen zur Erziehung, müssen für alle Familien in allen Landesteilen ähnlich sein. Kinder- und Jugendschutz dürfen nicht von den Haushaltsplanungen oder der wirtschaftlichen Stärke einzelner Kommunen abhängig sein.
• Ein Programm für die landesweite Personalgewinnung und -bindung im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) muss auf die Dienste und Einrichtungen der freien Träger (insbesondere der HzE) ausgeweitet werden. ASD und Einrichtungen sowie Dienste der HzE funktionieren nur gemeinsam und benötigen beide ausreichend qualifizierte Mitarbeitende. Die freien Träger müssen im Rahmen der Entgelte in die Lage versetzt werden, Fachkräfte zu binden und sie auf dem gleichen Niveau wie die Jugendämter zu bezahlen. Die Tarifbindung der freien Träger ist hierbei zu berücksichtigen. Maßnahmen, wie sie im Antrag benannt werden (umfassende Einarbeitung, betriebliche Gesundheitsförderung, Supervision, Fortbildung und Personalführung), sind auch bei den herausfordernden Tätigkeiten, z.B. im Rahmen der ambulanten und stationären Bereiche, unverzichtbar.
• Strukturierte Trainee-Programme für Absolvent*innen einschlägiger Ausbildungs- und Studiengängen mit dem Ziel des qualifizierten Berufseinstiegs und der Anbindung an das Arbeitsfeld werden von der LAG FW begrüßt. Gleichwohl müssen im Rahmen von Programmen zur Personalgewinnung auch die aktuell sinkenden Zahlen der Ausbildungsbeginnenden für den Beruf Erzieher*in und die stagnierenden Zahlen für die Aufnahme eines Studiums der Sozialen Arbeit in den Blick genommen werden. Eine Schwundquote von bis zu 30% im Studiengang Sozialer Arbeit an staatlichen Hochschulen muss darüber hinaus kritisch beleuchtet werden⁸.
Es müssen daher zugleich auch Maßnahmen ergriffen werden, die junge Menschen bereits vor und während der Ausbildung bzw. des Studiums an das Arbeitsfeld heranführen und langfristig binden.
• Die LAG FW NRW begrüßt die Unterstützung zum Erhalt und bedarfsgerechter Erhöhung der Kapazitäten für präventive Maßnahmen und die Hilfen zur Erziehung (HzE).
Mehr Prävention und erweiterte Kapazitäten bei den vorstationären Hilfen (z.B. Familienberatung, ambulante Dienste und Tages- bzw. Wochengruppen als teilstationäre Dienste) verringern mittelfristig den Bedarf an kostenintensiven stationären Plätzen.
Der Ausbau und die Stärkung dieser Hilfen ist ein wesentlicher Beitrag zur Demokratiesicherung und -förderung. Wichtig ist der LAG FW NRW, dass das Subsidiaritätsprinzip, welches die Grundlage unseres Sozialstaats darstellt und unter anderem in den §§ 3, 4 und 74 SGB VIII verankert ist, ausdrücklich gestärkt wird und im Bereich der Jugendhilfe beachtet wird. Das bedeutet, dass in erster Linie freie Träger der Jugendhilfe von den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe in die Lage versetzt werden sollen, Angebote im Rahmender Jugendhilfe aufzubauen und zu betreiben.
• Eine landesweite digitale Plattform zur Vermittlung freier Plätze in der Jugendhilfe lehnt die freie Wohlfahrt derzeit ab. Solche Plattformen existieren bereits, zeigen jedoch, dass sie kein wesentlicher Teil der Lösung sind. Wichtig ist aus Sicht der FW eine vernetzte regionale und landesweite Jugendhilfeplanung für die Hilfen zur Erziehung (HzE).
Die Planung für ambulante Dienste, Tagesgruppen und Beratungsstellen sollte regional erfolgen, aber zwischen benachbarten Jugendämtern vernetzt sein.
Die Planung für stationäre Plätze sollte überregional bzw. landesweit koordiniert werden, da Plätze in diesem Bereich teilweise auch bundesweit belegt werden.
Es gilt zu klären, wie viel Kapazitäten in den HzE derzeit fehlen und auf welche zukünftigen Szenarien sich die öffentliche und freie Jugendhilfe einstellen müssen. Mögliche Fluchtbewegungen (z.B. Inobhutnahme unbegleitet minderjähriger Ausländer gem. § 42a SGB VIII) und die damit verbundenen Aufgaben der Jugendhilfe sind aus Sicht der LAG FW NRW mitzudenken, und entsprechende Kapazitäten vorzuhalten.
• Die vorgeschlagene Entlastung der Verwaltungsprozesse der Jugendämter sollte auch die Prozesse der Träger, Dienste und Einrichtungen der freien Jugendhilfe entlasten. Gerade ihre Mitarbeitenden benötigen wieder mehr Zeit für Kinder, Jugendliche und Familien. Die LAG FW NRW schlägt einen landesweit einheitlichen Anfragebogen für die Anfrage von Wohngruppenplätzen vor. In diesem würden alle relevanten Informationen der Einrichtungen gebündelt, um eine schnelle und qualitativ hochwertige Entscheidung zu ermöglichen.
• Die LAG FW NRW begrüßt ausdrücklich die Sicherstellung der Förderung der Angebote der Familienhilfe zur der die genannte Familienberatung sowie auch die Familienbildung gehört. Sie sorgt hinsichtlich der Familienberatung für vergleichbare Qualität und Standards in NRW in der niedrigschwelligen Beratung von Eltern, Jugendlichen und Kindern.
5. Fazit
Die LAG FW NRW begrüßt den Antrag der FDP-Fraktion zur Stärkung der Jugendämter, betont jedoch, dass eine nachhaltige Verbesserung der Kinderschutzstrukturen nur im Zusammenspiel von öffentlicher und freier Jugendhilfe gelingen kann.
Die LAG FW NRW weist darauf hin, dass sich die Herausforderungen in der Kinder- und Jugendhilfe zunehmend durch gesellschaftliche Veränderungen verschärfen: Vereinzelung, psychosoziale Belastungen und sich wandelnde Familienstrukturen führen zu komplexeren Fallkonstellationen, auf die sich sowohl die öffentliche als auch die freie Jugendhilfe strategisch und konzeptionell einstellen muss.
Die aktuell kritische Lage ist u. a. Ausdruck tiefgreifender struktureller Probleme: Personalmangel, unzureichende Finanzierung und fehlende Planungssicherheit führen zu erheblichen Engpässen in Beratung, Betreuung und Kinderschutz.
Die LAG FW NRW unterstreicht, dass nicht nur die Jugendämter, sondern auch die Dienste und Einrichtungen freier Träger systemrelevant sind – und ebenfalls stark belastet. Sie warnt davor, dass Hilfen zur Erziehung zunehmend ausschließlich unter dem Aspekt des Kinderschutzes betrachtet oder darauf reduziert werden. Eine derart verengte Ausrichtung greift zu kurz und vernachlässigt den präventiven, entwicklungsfördernden und lebensweltorientierten Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe.
Die LAG FW fordert eine verlässliche Finanzierung der Jugendhilfe, faire Entlohnung und Personalgewinnung auch bei freien Trägern, bedarfsgerechter Ausbau präventiver Angebote sowie eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips. Die Hilfen zur Erziehung müssen so gestaltet werden, dass sie jungen Menschen und Familien ganzheitlich und dauerhaft Unterstützung bieten – mit dem Ziel, Selbstwirksamkeit zu stärken und Entwicklungsrisiken frühzeitig zu begegnen.
Die Einführung einer digitalen Vermittlungsplattform wird kritisch gesehen – stattdessen braucht es eine koordinierte, vorausschauende und überregionale Jugendhilfeplanung.
Trotz der Überlastung der Jugendämter und der beschriebenen Folgen betont die LAG FW NRW ausdrücklich, dass viele Fach- und Leitungskräfte sowie Politiker*innen engagiert arbeiten und versuchen, die Handlungsfähigkeit der öffentlichen und freien Träger zu sichern – und so Kinder und Jugendliche angemessen zu fördern.
1 § 1 SGB 8 - Einzelnorm (letzter Zugriff: 28.7.2025).
2 Quelle: NRW: Höchster Stand an Inobhutnahmen zum Schutz seit 2016 | Landesbetrieb IT.NRW (letzter Zugriff: 25.7.2025).
3 Psychotherapeutische Versorgung: laut Wartzeitstudie des BPtK 2018 beträgt die durchschnittliche Wartezeit in NRW auf eine Richtlinienpsychotherapie 20 und im Ruhrgebiet 30 Wochen: https://www.bundestag.de/resource/blob/916578/53724d526490deea69f736b1fda83e76/WD-9-059-22-pdf-data.pdf.
4 LWL / LVR: Aushandlung ambulanter Erziehungshilfen Empfehlungen für Jugendämter und freie Träger .
5 Statista: Kindeswohlgefährdung Deutschland 2023| Statista (letzter Zugriff: 28.7.2025).
6 Vgl.: Betzer, Doumet, Doumet, Herbrand: Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege im Ber-
gischen Städtedreieck; Wuppertal 2025.
7 Offener Brief an Bundeskanzler Merz zu Kostensteigerungen in der Kinder- und Jugendhilfe | Jugendhilfeportal (letzter Zugriff: 25.7.2025).
8 Vgl. Autor:innengruppe Forschungsverbund DJI/TU Dortmund (2024): Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe. Bestand, Lücken, Gewinnung, Bedarfe in NRW.