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Stellungnahme zum Antrag der Fraktion der SPD (Drucksache 18/14538) „NRW muss funktionieren: Tabus und blinde Flecken beim Kinderschutz – Nordrhein-Westfalen braucht ein Lagebild (Sexualisierte) Gewalt und Prävention“

Die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen (LAG FW NRW) dankt für die Möglichkeit, zum genannten Antrag Stellung zu nehmen.

Die Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt sowie sexueller und sexualisierter Gewalt wurden in NRW in den letzten Jahren spürbar verstärkt. Die Träger der Freien Wohlfahrtspflege, ihre Einrichtungen und Dienste beteiligen sich daran aktiv. Schutzkonzepte, Schulungen von Mitarbeitenden, trägerübergreifende Kooperationen, Risikoeinschätzungen (§ 8a SGB VIII) und die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen gehören zum Standard des fachlichen Handelns. Kinderschutz umfasst dabei mehr als Schutz vor sexualisierter und sexueller Gewalt. Meldungen zur Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII beinhalten auch Vernachlässigung, Verwahrlosung, psychische und physische Gewalt und weitere Gefährdungsformen, die oftmals in Kombination auftreten. Für das Jahr 2024 meldeten die nordrhein-westfälischen Jugendämter 17.230 Kindeswohlgefährdungen, davon 10.970 mit akuter Kindeswohlgefährdung. Die häufigste Form war Vernachlässigung mit 9.049 Fällen, gefolgt von psychischer Gewalt mit 6.351 Fällen, körperlicher Gewalt mit 5.742 Fällen und sexueller Gewalt mit 1.272 Fällen¹.
 

Entwicklungen und Infrastruktur im Kinderschutz

Die Zusammenarbeit zwischen den öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe funktioniert im Rahmen der Verantwortungsgemeinschaft grundsätzlich sehr gut, steht jedoch oftmals aufgrund eines bestehenden Fachkräftemangels bei gleichzeitigem Anstieg der Fallzahlen unter enormem Druck. Die steigenden Zahlen an Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung und an Risikoeinschätzungen im Rahmen der öffentlichen und freien Jugendhilfe resultieren dabei u.a. aus veränderten gesetzlichen Vorgaben, einer höheren Aufmerksamkeit bei Fachkräften und in der Bevölkerung sowie den Ausbau von Hilfestrukturen und -angeboten. So wurde in NRW beispielweise die an Familienberatungsstellen angegliederte spezialisierte Beratung bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche seit 2021 ausgebaut und Fachberatungen für Kinderschutz in unterschiedlichen Handlungsfeldern wie Tageseinrichtungen für Kinder, Offener Ganztag oder Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit eingerichtet.

Vor dem Hintergrund der ansteigenden Zahl an Meldungen, kann sich die öffentliche Jugendhilfe aufgrund personeller Engpässe oftmals nur noch Pflichtaufgaben wie Gefährdungseinschätzungen oder der Umsetzung von Schutzmaßnahmen widmen. Andere Kernaufgaben wie Prävention und Erzieherischer Kinder- und Jugendschutz rücken dabei in den Hintergrund, gleichwohl diese für nachhaltigen Kinderschutz unverzichtbar sind. Auch im Bereich der freien Jugendhilfe können sich durch fehlende Fachkräfte sowohl bei der Familienberatung, den ambulanten Diensten als auch bei (teil-)stationären Angeboten Risiken ergeben. Die Risiken betreffen sowohl das Aufrechterhalten von Standards als auch – wie im Antrag erwähnt - die Existenz von stationären Plätzen sowie die Kapazitäten von Beratungsstellen und ambulanten Diensten.


Tatpersonen und Täterarbeit

Die besondere Hervorhebung weiblicher Tatpersonen im vorliegenden Antrag wird insgesamt kritisch bewertet. Die aktuellen Bundeslagebilder weisen weiterhin einen sehr hohen Anteil männlicher Tatpersonen von über 95% aus². Der im Antrag angeführte Forschungsbericht der Unabhängigen Kommission von 2021 basiert auf einer anonymen Onlinebefragung von 212 Personen, die sexuelle Gewalt durch Frauen erfahren haben. Die Ergebnisse gelten als Querschnittsstudie und sind nicht repräsentativ. Eine überproportionale Fokussierung auf weibliche Tatverantwortliche verzerrt die Lageeinschätzung und riskiert, strukturelle Ursachen von Gewalt auszublenden.

Ambulante Therapiemaßnahmen für Sexualstraftäter leisten einen wesentlichen Beitrag zum Schutz von Kindern und Jugendlichen. Kinderschutz erfordert nicht nur Interventionen bei Betroffenen, sondern zwingend auch eine fachlich fundierte, kontinuierliche Arbeit mit Tatverantwortlichen, um weitere Übergriffe wirksam zu verhindern. Ambulante Täterarbeit zielt auf Rückfallvermeidung, die Auseinandersetzung mit deliktspezifischen Handlungsmustern sowie auf eine nachhaltige Verantwortungsübernahme und ist damit ein zentraler Bestandteil wirksamer Schutzkonzepte. Aufgrund der hohen Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen kommt der Stabilität und fachlichen Absicherung dieser Angebote eine besondere Bedeutung zu. Die Wirksamkeit der beschriebenen Maßnahmen und Angebote hängt wesentlich von Kontinuität, fachlicher Dichte und verlässlichen Rahmenbedingungen ab. Gleichzeitig finden die Erfahrungen und Erkenntnisse bislang kaum Eingang in landesweite Berichterstattung und Steuerung. Weder Umfang noch Wirksamkeit oder strukturelle Bedarfe werden systematisch erfasst oder ausgewertet. Ohne die Einbeziehung dieses Bereichs bleibt ein Lagebild zu (sexualisierter) Gewalt an Kindern und Jugendlichen unvollständig. Eine stärkere strukturelle Verankerung und die systematische Berücksichtigung der ambulanten Täterarbeit sind daher erforderlich, um Kindeswohl und Kinderschutz langfristig wirksam zu sichern.


Anmerkungen zur Beschlussfassung

Grundsätzlich begrüßt die Freie Wohlfahrtspflege das Anliegen der Antragsteller, ein Lagebild zu (sexualisierter) Gewalt an Kindern und Jugendlichen in NRW und eine kontinuierliche Datengrundlage zu schaffen Dabei sollten die unterschiedlichen Kontexte in privaten wie in öffentlichen Bereichen und auch unterschiedliche Tätergruppen bei der Ausübung von (sexualisierter) Gewalt berücksichtigt werden. Eine reine Fokussierung auf geschlechtsspezifische Unterschiede greift dabei jedoch zu kurz. Für das Lagebild sollte auf die Daten des Bundeslageberichts und die Meldungen durch das Landeskriminalamt NRW zurückgegriffen werden.

Auch der Vorschlag, die Wirkung von Präventionsarbeit zu erforschen, wird seitens der Freien Wohlfahrtspflege unterstützt. Die „Forschung zur systematischen Prävention sexualisierter Gewalt an Kindern, Jugendlichen sowie schutz- und hilfebedürftigen Erwachsenen in der katholischen Kirche in Nordrhein-Westfalen (PräNRW)“ kann nur ein Anfang sein. Neben der Wirkung von Maßnahmen zur Prävention ist es wichtig, Fälle sexualisierter Gewalt aufzuarbeiten. Erkenntnisse darüber, was das Entstehen von sexualisierter Gewalt begünstigt und was die Aufdeckung und den Schutz von Kindern und Jugendlichen verhindert oder erschwert, können helfen, Prävention noch wirksamer zu machen. Die Arbeit mit Tatverantwortlichen ist bei der systematischen Wirkungsanalyse, wie beschrieben, zu berücksichtigen.

Darüber hinaus fordert die LAG FW NRW zum Schutz von Kindern und Jugendlichen (auch) vor sexualisierter Gewalt:

  • eine systematische landesweite Bedarfserhebung an stationären Plätzen,
  • den bedarfsgerechten Ausbau von Studien- und Ausbildungsplätzen für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe,
  • den bedarfsgerechten Ausbau von Familienberatung sowie die dauerhafte und vollständige Finanzierung von Beratungsangeboten durch Land und Kommunen.

Schlussbemerkung

Die LAG FW NRW begrüßt die Initiative zur Schaffung eines umfassenden Lagebildes zu sexualisierter Gewalt und Prävention. Für eine belastbare Grundlage politischer Entscheidungen bedarf es jedoch klar definierter Zielsetzungen, valide erhobener Daten sowie der Einbeziehung aller relevanten Akteure. Nur so kann der Kinderschutz in NRW nachhaltig und wirksam weiterentwickelt werden.


¹ https://www.it.nrw/nrw-rund-ein-viertel-mehr-akute-oder-latente-kindeswohlgefaehrdungen-als-vor-fuenf-jahren-127605

² https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/SexualdeliktezNvKindernuJugendlichen/SexualdeliktezNvKindernuJugendlichen_node.html

 

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