Sprockhövel / Dortmund - Die Werkstätten für behinderte Menschen in Westfalen-Lippe erleben sich selbst als leistungsfähig, innovativ und wirtschaftlich konkurrenzfähig. Das ist die Botschaft nach Abschluss des 2. Westfälischen Werkstättentages in Hattingen-Sprockhövel (27. bis 29. Oktober). Das starke Selbstbewusstsein resultiert aus der Tatsache, dass »mittlerweile rund 38.000 Frauen und Männer mit unterschiedlichen Behinderungen in den 61 speziellen, westfälischen Werkstätten beschäftigt sind.« Diese Zahl nannte Dieter Gebhard, Vorsitzender der Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe.
Der Fachkongress im IGM-Bildungszentrum für Geschäftsführungen, Werkstattleitungen und Führungskräfte aus dem Umfeld von Werkstätten für behinderte Menschen hat aufgezeigt, welche Entwicklungen und Fortschritte für eine Bevölkerungsgruppe möglich und notwendig sind, die »lebenslang auf Solidarität und Zuwendung durch die Gesellschaft angewiesen ist«, sagte Wolfgang Altenbernd. »Der Werkstattentag hat bewiesen, dass in Deutschland Gerechtigkeit durchsetzbar ist, wenn sich Politik, Wirtschaft, Kostenträger und Werkstattträger konsequent auf die Seite der Menschen stellen, die Assistenz und Unterstützung bedürfen«, so der Geschäftsführer der AWO im Bezirk Westliches Westfalen weiter.
Der Schulterschluss ist auch der Tatsache geschuldet, dass sich die Eingliederungshilfe unter neuen rechtlichen Rahmenbedingungen weiterentwickeln muss. Wie, das ist in den Sozialgesetzbüchern IX, XII, der Werkstättenverordnung und im Landesrahmenvertrag klar definiert: Menschen mit Behinderungen sollen möglichst gleiche Lebensbedingungen und Chancen gesichert werden wie Menschen ohne Behinderungen.
Das bedeutet für die Praxis: Fortentwicklung der Versorgungsstrukturen und der Leistungsformen zur Eindämmung einer prognostizierten Kostenentwicklung.
NRW-Arbeits- und Sozialminister Guntram Schneider will das behindertenpolitische Landesprogramm »Teilhabe für alle« weiter entwickeln. »Wir wollen eine Gesellschaft, in der niemand wegen Behinderung ausgegrenzt wird. Um die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen, werde ich deshalb gemeinsam mit den anderen Ressorts der Landesregierung und den Organisationen behinderter Menschen einen Aktionsplan ?Eine Gesellschaft für alle — NRW inklusiv? auf den Weg bringen,« sagte der Minister heute beim 2. Westfälischen Werkstättentag.
Die Fallzahlen in der Behindertenhilfe steigen seit 2000 kontinuierlich und deutlich an - bis 2014 um 56 Prozent.
Bernd Finke ist maßgeblich an der Entwicklung der Rahmenzielvereinbarung beteiligt. Der Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) zeigte auf, wo Leistungsträger und Verbände noch uneins sind, was die Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben betrifft: Es soll ein dauerhafter Nachteilsausgleich für Arbeitgeber geschaffen werden, wenn behinderte Menschen aus der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wechseln wollen — nach Ansicht der Länder aus Mitteln der Sozialhilfe. Es sollen die rechtlichen Voraussetzungen geklärt werden, die erfüllt sein müssen, wenn für werkstattbedürftige behinderte Menschen alternative Beschäftigungsformen zur Werkstatt ermöglicht werden sollen.
Auch die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte der Menschen mit Behinderungen gibt - was deren gesellschaftliche Teilhabe betrifft - eine eindeutige Richtung vor. LWL und die Träger der Freien Wohlfahrtspflege sehen dies als große Herausforderung an. In der Behindertenhilfe arbeiten nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) gut 290.000 Mitarbeiter(innen). Auch deren Anzahl ist kontinuierlich gestiegen — von 19.000 in 1970 auf gut 291.000 heute. »Die Behindertenhilfe ist eine Wachstumsbranche, aber angesichts ihrer hoch spezialisierten und stationär differenzierten Hilfestrukturen auch ein Kostenfaktor«, sagte Dr. Heinz-Jürgen Dahme, Professor für Verwaltungswissenschaft an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Die Ausgaben der Kommunen für soziale Leistungen insgesamt sind von 2002 bis 2009 von ca. 28 Milliarden auf etwa 39 Milliarden Euro angewachsen. Nach Angaben des Deutschen Städte- und Gemeindebundes (DStGB) sind es vor allem die steigenden Kosten bei der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, die den gewaltigen Kostenschub verursacht haben: In 2007 wurde für ca. 679.000 Menschen Eingliederungshilfe gezahlt. Die Bruttokosten dafür lagen 1991 noch bei ca. 4 Milliarden und sind bis 2008 auf etwa 11,9 Milliarden angestiegen. »Fast die Hälfte aller Ausgaben der Sozialhilfe muss für die Eingliederungshilfe aufgewendet werden«, so Dahme. Die Forderung der Kommunen, ein Bundesleistungsgesetz für Menschen mit Behinderung zu schaffen, um auch den Bund an der Finanzierung dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zu beteiligen, sei bisher gescheitert. Ein Drittel aller kommunalen Sozialausgaben gehen in die Eingliederungshilfe. Dahmes Fazit: »Die Behindertenhilfe steht demnach in mehrfacher Hinsicht unter Modernisierungsdruck.« Das gegenwärtig populäre Programm »ambulant vor stationär« sei auch hier der »größte kommunale Hoffnungsträger«.
Gegenwärtig wird die Inklusionsdebatte wieder heftig geführt. Teilhabe — Selbstbestimmung — Eigenverantwortung sollen die Situation behinderter Menschen entscheidend verbessern. »Bürgerrechte« und »Partizipationschancen« fielen zudem als Schlagworte. Neben den professionellen Trägern gehören neuerdings auch Familien und die Zivilgesellschaft zu den Leistungserbringern. Die Sozialpolitik, so hieß es auf der Fachtagung in Sprockhövel, erhebe den Anspruch, Laienhilfe und professionelles System effizient zu vernetzen. Wie der Übergang von den Werkstätten in den allgemeinen Arbeitsmarkt ablaufen soll, das ist einer Geschäftsanweisung geregelt. Dagmar Lorré-Krupp, Regionaldirektorin der Bundesagentur für Arbeit NRW, erklärte die Position des Reha-Trägers. »Es kann keine Musterlösung geben, jede Einrichtung wird durch ihre Fachkräfte individuell geprägt. Und genau dieser Pulsschlag soll im Umsetzungskonzept erkennbar werden.«
Dass sich Behinderung und Kultur nicht ausschließen, deutete schon das Motto des 2. Westfälischen Werkstättentages an: »Kunst in der Werkstatt — Werkstattkultur«. Prof. Dr. Irmgard Merkt von der Fakultät Rehabilitationswissenschaften in Dortmund zitierte Antonio Damasio: »Ich fühle, also bin ich!« Auch die Menschen mit Behinderungen hätten ein Recht auf die Teilhabe am kulturellen Leben. Merkt sagt: »Lasst sie unaufgeregt dabei sein.« Dass in einigen Behinderten das künstlerische Genie schlummert, veranschaulichte Klaus-Peter Kirchner aus Soest. Er stellte das Projekt »Visionen zur Inklusion künstlerisch begabter Menschen mit Behinderung« vor.
Und noch an anderer Stelle kam die Politik in Sprockhövel zu Wort: Norbert Killewald, frisch ernannter Beauftragter der Landesregierung für die Belange behinderter Menschen, kündigte eine Dialogoffensive zum Thema »Wirtschaft und Behinderung« an, weil »Menschen mit Behinderung oft als reine Leistungsempfänger gesehen und als Mitleidsfaktor empfunden. Das ist grundlegend falsch«.