Die Beschäftigung boomt. Dennoch sind allein in NRW 290.000 Menschen langzeitarbeitslos. Ein Drittel hat ohne individuelle Hilfen so gut wie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Es braucht eine Neuausrichtung der Förderinstrumente im SGB II (Hartz IV), die verhindert, dass Menschen dauerhaft abgehängt werden und in Krankheit und Perspektivlosigkeit abrutschen. Wie die aussehen können, stellte die Freie Wohlfahrtspflege NRW heute auf einer Fachtagung vor – mit prominenter Unterstützung aus der Wissenschaft.
Trotz aller Bemühungen der Jobcenter, Arbeitslose wieder in Arbeit zu vermitteln, gelingt das in NRW bei einem Drittel der 290.000 Langzeitarbeitslosen kaum. Die Freie Wohlfahrtspflege NRW fordert die Politik daher auf, endlich neue Wege in deren Unterstützung zu gehen. „Es fehlen nicht nur Jobs im Helferbereich. Auch die bisherigen Förderinstrumente wirken bei vielen nicht“, kritisierte Christian Heine-Göttelmann, Vorstand der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe und künftiger Vorsitzender der Freien Wohlfahrtspflege NRW, auf einer Fachtagung mit rund 150 Arbeitsmarktexperten am Dienstag in Düsseldorf. „Wir brauchen Angebote, die es den Menschen ermöglichen, wieder Selbstbewusstsein aufzubauen und ihre Talente zu entdecken.“
Dafür gibt es bereits vielversprechende Methoden und Projekte. Auch viele Jobcenter haben begonnen, neue Wege zu gehen. Grundlage erfolgreicher Initiativen der Diakonie, AWO, Caritas und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, die auf der Tagung vorgestellt wurden, ist der sogenannte „Befähigungsansatz“. „Nach Jahren der Arbeitslosigkeit, unzähliger erfolgloser Bewerbungen und zum Teil als sinnlos empfundenen Trainings trauen sich viele Menschen kaum noch etwas zu, sind deprimiert, krank und ohne Selbstvertrauen“, berichtete Werner Lüttkenhorst vom Paritätischen Wohlfahrtsverband NRW. „In Gruppenarbeit und Coachingprozessen entdecken sie ihre eigenen Fähigkeiten wieder und werden unterstützt, wieder am sozialen Leben teilzunehmen.“ In den vier- bis sechsmonatigen Kursen bei Wohlfahrtsverbänden werden sie schließlich selbst aktiv und stellen sich gut vorbereitet, selbstbewusst und häufig gesünder bei potentiellen Arbeitgebern vor.
Zwar sind die Jobcenter durchaus verpflichtet, individuell, umfassend und aus einer Hand zu helfen. Doch in der Praxis wird der Grundsatz, Menschen möglichst schnell auf den Arbeitsmarkt zu vermitteln, für manche zur Falle. Langzeitarbeitslose, bei denen dies nicht gelingt, geraten leicht in eine Spirale erfolgloser Bewerbungen und kurzfristiger Qualifizierungsmaßnahmen, die sie unter Druck setzen und demotivieren statt sie tatsächlich fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Ein großer Teil von ihnen wird so psychisch krank.
Der Weg zurück in ein soziales, gesundes und sinnvoll erlebtes Leben sei vor allem durch ein Um- und Neulernen möglich, betonte der renommierte Braunschweiger Neurobiologe Martin Korte auf der Fachtagung. Er plädierte dafür, neue wissenschaftliche Erkenntnisse der Gehirnforschung in der Begleitung langzeitarbeitsloser Menschen stärker zu berücksichtigen. Dazu gehörte, die ständigen Misserfolge, die sie im Kopf hätten, durch Erfolgserlebnisse und positive Denkweisen zu ergänzen.
„Nicht der Markt, sondern der Mensch mit seiner Würde und seinen Fähigkeiten muss wieder in den Mittelpunkt rücken“, forderte Christian Heine-Göttelmann. Soziale Teilhabe sei nicht nur ein wirksamer Schutz gegen Krankheit und Vereinsamung, sondern auch gegen Rechtspopulismus. „Wer selbst Respekt und Hilfe erfährt, ist auch eher bereit, sie anderen zu geben.“